Briefe sowjetischer Bürgerinnen und Bürger, welche nach Deutschland verschleppt wurden, an deren Familien in der Region Kyjiw
Signatur
721100003
Entstehungszeitraum
1942 - 1943
Anzahl Dokumente
34901
Form und Inhalt
Die Sammlung enthält tausende Briefe sowjetischer Bürger/-innen, welche nach Deutschland verschleppt wurden, adressiert an deren Familien in der Region Kyjiw (Kiew). Die Deportation junger Menschen aus der Region Kyjiw zur Zwangsarbeit begann am 22. Januar 1942, als die Besatzungsmacht etwa 1.500 Personen rekrutierte. Von Anfang an haben die Verschleppten versucht Kontakt nach Hause aufzunehmen. Jedoch erst im Sommer 1942 wurden für die sogenannten Ostarbeiter/-innen per Sonderbestimmungen Regelungen für den Postbereich geschaffen. Im November 1942 wurden spezielle Korrespondenzregeln auferlegt, nach diesen Regeln durften Ukrainer/-innen zwei Postkarten pro Monat schicken.
Die meisten Briefe lassen sich auf drei Kategorien aufteilen:
• Briefe, welche auf dem Papier geschrieben und in Briefumschlägen verschickt worden sind (Dokument ID 126963511– 126963512) und sehr selten vorkommen;
• Bildpostkarten mit dem Bildmotiv auf einer Seite und mit dem geschriebenen Text auf der anderen Seite (Dokument ID 126721583–126721584, Dokument ID 126734232–126734233), auch diese kommen selten vor;
• von den nationalsozialistischen Behörden ausgestellte Postkarte mit Antwortkarte (Dokument ID 126963613–126963614, Dokument ID 126732016–126732017), welche die Mehrheit der Dokumente in der Sammlung darstellen.
Die Postkarte mit Antwortkarte war doppelt und sah symmetrisch aus. Die erste Seite war für den Absender vorgesehen. Auf der ersten Seite stand meistens in deutscher Transliteration (Dokument ID 126721583), aber auch auf Ukrainisch (Dokument ID 126963613) Vor- und Nachname von dem Adressaten und der Text vom Brief. Die zweite Seite beinhaltete den Namen und die Adresse von dem Absender und war für die Antwort aus der Ukraine vorgesehen (Dokument ID 126963614). In der Sammlung haben viele Postkarten mit Antwort nur die erste Seite, nämlich die des Absenders. Im Original sind die Postkarten normalerweise 14,5x10,5 cm groß.
Auf allen Postkarten wird die Zahlung für Postdienste durch das Vorhandensein einer deutschen Briefmarke bestätigt. Es gibt auch einen Poststempel mit Ort und Sendungsdatum. Alle Briefe sind handgeschrieben (Dokument ID 126721583), manchmal mit dem Bleistift (Dokument ID 126732016–126732017). Sie sind auf Ukrainisch verfasst. Möglicherweise sind manche von ihnen auf Russisch verfasst, jedoch bei den durchgeführten Stichproben waren alle gesichteten Briefe auf Ukrainisch.
Immer wieder haben Zwangsarbeiter/-innen Fotos an die Familien geschickt. Normalerweise nähten sie Fotos an die Postkarte mit den Fäden an (Dokument ID 126723176–126723177, Dokument ID 126723198–126723199), manchmal klebten sie Fotos auf die Postkarte auf (Dokument ID 126729776–126729777, Dokument ID 126729909–126729911). Im zweiten Beispiel klebt das Foto nicht mehr an der ursprünglichen Stelle, was an hellerem Papier oberhalb des Fotos und so etwas wie Reste von Kleber, zu erkennen ist. Die Mehrheit von den angenähten Fotos wurde von den Postkarten entweder durch die Mitarbeiter/-innen von NKWD, NKGB und deren Nachfolgerbehörden, oder später durch die Archivmitarbeiter/-innen getrennt. Fast immer ist es möglich anhand der Löcher auf dem Foto und auf der Postkarte zu erkennen, wo das Foto ursprünglich war (Dokument ID 126963613–126963614).
Die frühste Datierung ist 12. Dezember 1942 (Dokument ID 126740025–126740026). Jedoch die meisten Briefe haben die Ukrainer/-innen im Sommer – Herbst 1943 verfasst. Womöglich gibt es auch andere Datierungen, jedoch bleiben die in den Stichproben ermittelten Daten im Rahmen. Der Inhalt der Dokumente informiert über den Aufenthalt in Deutschland, emotionalen und körperlichen Zustand, Freizeit, Beziehungen zu den Deutschen und zu den Zwangsarbeiter/-innen aus den anderen Nationen, manchmal Arbeitsbedingungen, oder geleistete Arbeit, usw. Normalerweise beginnen Briefe mit einer Grußformel, in der die ganze Verwandtschaft aufgezählt wird, manchmal werden die Grüße an die Familie und Freunde am Ende geschrieben. Die Verschleppten stellen viele Fragen über die Gesundheit der Familie, Arbeit im Garten und allgemeine Lage in der Ukraine. Oft bitten sie Familienmitglieder ihnen ein Foto, oder etwas Tabak, welcher als Geld galt, zu schicken.
Gemäß der Verordnung des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vom Juni 1942 sollten Briefe überprüft werden. Nicht alles war erlaubt zu schreiben. Einige Briefe haben Spuren von Zensur, wo die Inhalte gründlich mit schwarzer Farbe (Dokument ID 126962680–126962681) durch die Auslands(telegramm)prüfstelle des OKW gestrichen wurden, bestätigt durch den runden roten „OKW-geprüft“ Stempel, oder durch den runden schwarzen Stempel mit den Buchstaben „Ab“. Bei den anderen Briefen wurden unerwünschte Inhalte mit blauer Farbe (Dokument ID 126724149–126724150) durchgestrichen, wobei man den Text noch relativ gut erkennen kann. Je nach Inhalt der Postkarte hat die Prüfstelle nichts durchgestrichen (Dokument ID 126960557–126960558; Dokument ID 126962064–126962065). Die nächste Stufe der Inspektion wurde direkt von den Besatzungsbehörden vor Ort durchgeführt. Manchmal ahnt man in den Briefen eine Art der „geheimen Sprachen“, wo bestimmte Objekte mit anderen Namen genannt wurden, um die Zensur zu umgehen. Eine Bestätigung dafür findet man in den Aussagen Zeitzeugen/-innen nach dem Krieg.
Unter den Briefen der Zwangsarbeiter/-innen kommt manchmal Kriegsgefangenenpost vor (Dokument ID 126959575–126959576, Dokument ID 126959722–126959723, Dokument ID 126969864–126969865). Auch diese Post wurde durch die Postüberwachung im Stammlager geprüft (Dokument ID 126960489–126960490).
Höchstwahrscheinlich haben die Adressaten die Briefe nie bekommen. Zwei starke Argumente sprechen dafür. Zum einen, haben sehr viele der Postkarten mit Antwort den vorgedruckten Antwortbogen noch dabei. Normalerweise sollte es abgerissen und als Antwort verschickt werden. Zum anderen, hat das Staatliche Archiv der Region Kyjiw im März 2019 ein öffentliches historisch-dokumentarisches Projekt „NeprOSTi listy“ (dt. schwere Briefe) gestartet. Der Ursprung des Projekts war Mai 2018 als ein ukrainischer Historiker, Witalij Heds, die Sammlung im Archiv entdeckt hat. Das Projekt verfolg das Ziel die im Herbst 1943 nicht zugestellten Briefe der sogenannten Ostarbeiter/-innen an ihre jetzigen Nachkommen zurückzugeben.
Die Sammlung ist nach Ortschaften sortiert. Leider haben die Archivmitarbeiter/-innen in den 1960er Jahren die Namen der Ortschaften manchmal auf Russisch, manchmal auf Ukrainisch geschrieben, nicht immer korrekt transkribiert, oder nicht überprüft. Um die Missverständnisse zu vermeiden haben die Mitarbeiterinnen der Arolsen Archives die Namen überprüft, korrigiert und korrekt transkribiert. Als erstes kommt die Transkription aus dem Ukrainischen in Klammern die Transkription aus dem Russischen z.B. Dorf Mala Wilschanka (Malaja Olschanka) (Archivbeschreibung ID 475984, Dokument ID 126726322). Da sich die Grenzen vom Gebiet Kyjiw in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts mehrmals verändert haben, befinden sich jetzt einige Ortschaften im Gebiet Tscherkasy (Tscherkassy), Tschernihiw (Tschernigow), Schytomyr (Schitomir). Außerdem sind manche Einzeldörfer (ukr. Chutir / russ. Chutor – eine Einzelhofsiedlung, oder eine Art ländliche Ortschaft in einigen Ländern Osteuropas) zu Dörfern geworden, andere wurden zusammengeführt, oder umbenannt. Alle diese Veränderungen sind angemerkt.
Die Dörfer Mala Supojiwka (Malaja Supoewka), Nedra, Pylyptscha (Piliptscha), Semeniwka (Semjonowka), Sofijiwka (Sofiewka), Usiwka (Usowka) wurden zwei Mal abfotografiert und im System doppelt erfasst. Da manche Aufnahmen mangelhaft (nicht immer scharf, oder nur zum Teil fotografiert) sind, wurde entschieden doppelte Aufnahmen zu behalten.
Literatur:
Heds, Witalij: Istorija proektu „NeprOSTi lysty“ [Geschichte des Projekts „NeprOSTi lysty“ (Komplizierte Briefe)], 17.05.2019, in: Makariwsjki wisti, URL http://makvisti.com/2019/05/17/istoriya-proektu-neprosti-lysty/?fbclid=IwAR3Q767EH-HXa317B7io3YLwcvgA9wSh60s8zpAMuAQGsS9s0rV2zltx_ZA (letzter Abruf am 05.10.2020).
Lehun, Hanna: Zensiert, beschlagnahmt, geheimgehalten. Privatfotos ukrainischer Zwangsarbeiter_innen aus der Sammlung im Winnyzja Regionalarchiv, 13.07.2020, in: Humboldt-Universität zu Berlin, URL https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/22324 (letzter Abruf am 30.09.2020).
Marmilowa, Olha: Dscherela do Wywchennja Istoriji Ostarbajteriw s Donetschttschyny [Quellen zum Studium der Geschichte von Ostarbeitern aus der Region Donezk], Winnyzja, 2017, 297 S.
„NeprOSTi lysty“ [„NeprOSTi lysty“ (komplizierte Briefe)], offizielle Facebook-Seite des Projekts, URL https://www.facebook.com/%D0%9D%D0%B5%D0%BF%D1%80OST%D1%96-%D0%BB%D0%B8%D1%81%D1%82%D0%B8-318367345520928/ (letzter Abruf am 01.10.2020).
Pastuschenko, Tetejana: Ostarbajtery s Kyjiwschtschyny: werbuwannja, prymusowa prazja, repatrіazіja (1942–1953) [Ostarbeiter aus der Region Kyiw: Rekrutierung, Zwangsarbeit, Repatriierung (1942–1953)], Kyjiw, 2009, 282 S.
Aufbewahrungsort der Orginale
Staatliches Archiv der Region Kyjiw (Kiew)